
Warum es sich lohnt, die etwas altmodisch anmutige Tugend der Milde jetzt für das Gelingen von Projekten zu entdecken.
Milde. Was für ein altmodisches Wort! Verwendet man das heute überhaupt noch? Ich bin darüber gestolpert, als ich die Qualitäten des Vollherbstes aufgeschrieben habe.
Was ist Milde?
Im indischen Restaurant würde ich sagen, "mild" beschreibt die "eingedeutschten" Rezepte, deren Schärfe unsere mitteleuropäische Zunge gerade noch gut verträgt: beim Essen ist "mild" etwas, das nicht scharf ist.
Wenn wir von mildem Licht sprechen, ist es genau das Licht, dass wir jetzt im Oktober sehen, wenn die Sonne scheint. Es macht weniger harte Schatten und scheint an Orte vorzudringen, die sonst, im Hochsommer, im Dunkel liegen, denn: die Sonne steht schon tiefer und dringt dadurch weiter in Räume ein. Doch das Licht scheint sich auch anders zu verteilen. Ob es an den weniger dicht belaubten Bäumen liegt, oder an deren mehr Licht reflektierenden bereits gefärbten Blättern...? Das milde Licht der Oktobersonne scheint uns zu umgeben, statt uns anzustrahlen. Es hüllt uns ein, ist weniger streng und grell, gedämpfter, sanfter. Und damit vielleicht auch, wie beim Essen - nicht scharf.
Um dankbar zu sein und loslassen zu können - das, was der Herbst als Qualitäten jetzt auch mit sich bringt, braucht es vielleicht diese Milde...?
So könnten wir versuchen, alles in einem milderen Licht zu sehen: Das, was in diesem Jahr an Projekten geglückt ist - und das, was missglückte. Das, was wir erreichen konnten - und das, was wir (noch) nicht erreicht haben. Wir könnten freundlich(er) mit uns selbst und anderen sein, milder. Und daher vielleicht zurückhaltender.
DAS finde ich ein äußerst schwieriges Wort. Zurück-Halten, das hat etwas von von fest-Halten, nicht hinein Geben, sich heraus Nehmen, (sich) oder etwas (von sich) nicht heraus geben (wollen oder können).
Damit ist es so ziemlich das Gegenteil von dem, was wir als Tugenden in unserer heutigen Zeit pflegen. Der/die Lauteste wird oft gehört. Wer sich zeigt und einbringt, wird gesehen. Wer beiträgt und macht und tut und nach vorn geht, kommt voran.
Zurück-Haltung wird mit Schüchternheit gleichgesetzt, mit Unfähigkeit (sich auszudrücken), mit Drückebergerei, mit Faulheit vielleicht sogar.
Wenn ich Zurückhaltung jedoch mit Milde gleichsetze und mit dem Bild vom Licht der Oktobersonne, kommt mir ein ganz anderer Gedanke. Dann ist ein sich zurück-Halten viel mehr gleichgesetzt mit in-sich-Halten können, mit Warten können, mit der sanften Haltung von jemandem, der abwarten kann, bis der wirkliche Moment zum Handeln gekommen ist.
Milde Zurückhaltung lässt damit andere zu, lässt andere und das, was um uns ist, leichter so sein, wie es/er/sie ist. Das schafft einen Raum für Vertrauen, für sich gegenseitig in milderem
Licht-Sehen und einander Verstehen und für Entfaltung außerhalb der eigenen Kontrolle.
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Mit milder Zurückhaltung versuche ich, im Garten dem Herbst zu begegnen. Ich versuche, der Versuchung stand zu halten, nicht gleich alles abzuschneiden, wegzufegen, oder umzugraben. Ich lasse das Welken und sich-Verfärben zu. Ich lasse es zu, den Herbst und das Chaos, das er mit sich bringt: Spinnweben, Laub, welke Stauden... auszuhalten und zu beobachten, wie die Welt um mich sich verändert, wie etwas zu Ende geht.
Ich versuche, dem Gartenjahr kein "scharfes" Ende zu verpassen, sondern einen sanften, einen milden Übergang zu pflegen.
Es ist erstaunlich, was dabei alles zu Tage kommt. Erst jetzt blühen Ringelblumen und Kapuzinerkresse so richtig. Letzte Bienen tummeln sich in den Herbstastern. Mein Rukkola war das ganze Jahr über nicht so schön, wie jetzt. Die Morgensonne zaubert zusammen mit Tau und Spinnweben eine Zauberwelt, die fast magisch wirkt.
Nur durch meine Zurückhaltung bekomme ich im Garten derzeit das Geschenk ganz besonderer Momente, die ich so nicht erleben könnte, wenn ich tatkräftig alles schon "in Ordnung" gebracht hätte.
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Vielleicht sollte ich dazu sagen, dass ich mich vor drei Wochen heftig an der rechten Hand verbrüht hatte. Mir blieb gar nichts anderes übrig, als nichts tun zu können. Ich musste mir mit Milde begegnen - und mich zurück halten. Und zugegeben: das war nicht einfach. Ich begreife erst jetzt, dass darin auch eine neue Erkenntnis lag.
Wer weiß, was mir/ was uns an Schönem, an Wundern, an Zauberhaftem begegnen - und zu uns kommen könnte, wenn wir des öfteren etwas milder wären...?! Vielleicht entsteht oft dann erst Klarheit, wenn wir milder sind? Auch wenn das jemandem, der Schärfe und Ordnung, Struktur und Klarheit mag, wie mir, gar nicht so leicht fällt.